Sonntag, Januar 16, 2011

Wenn der Schnee schmilzt

Ohne lange darauf einzugehen, dass ich meine kleine digitale Lebensbeichte nun schon eine halbe Ewigkeit mit Ignoranz bestraft habe, komme ich zum Punkt:


Rudi Assauer, Zigarrenmann des Jahres 2002, ehrenwerter Ex-Manager meines Leib-und-Magen-Vereins und Vorzeigmacho der Nation in einem, ist weniger für philosophische Bonmots, denn für markige Sprüche bekannt. (Kleines Beispiel: »Es ist unmöglich, dass ein so hochbezahlter Trainer, den wir Bundesligavereine mitbezahlen, dass der ein halbes Jahr in Kalifornien hängt. Wenn ich dann höre, 'wir machen Telefonkonferenzen' - da werd' ich bekloppt in der Birne!« (Rudi über den Umstand, dass Ex-Bundestrainer Jürgen Klinsmann die meiste Zeit in seiner kalifornischen Heimat verbrachte)). Dennoch entkroch seiner Sprechhöhle einst ein Satz, der in seiner Weisheit so manchem Zahn überlegen sein dürfte. Denn Stumpen-Rudi, wie ihn Freunde des Boulevards gerne nennen, sagte einst:

»Wenn der Schnee schmilzt, sieht man, wo die Kacke liegt.«

Was soll man sagen? Mit diesem Satz hat Rudi gleich in mehrfacher Hinsicht Recht.
Zuallererst natürlich im wörtlichen Sinn: Berlin ist eine Stadt mit hoher Lebensqualität. Sie bietet für jeden das, was er sich wünscht. Das ist schön und anstrengend zugleich. So wurde Berlin zum Lebensmittelpunkt für alle Arten von Menschen. Und wie so oft, wenn viele Menschen an einem Ort miteinander leben, entwickelt sich ein Phänomen, dass einem den letzten Nerv rauben kann. Denn, wenn viele Menschen zusammen an einem Ort leben, egal ob in einer WG oder einer Millionenstadt, fällt auf, dass es diesen vielen Menschen in den meisten Fällen scheißegal ist, wie der Ort, an dem sie zusammen leben, aussieht. Die eigenen vier Wände werden gehegt, gepflegt und mit Designermöbeln zum Feelgood-Place hoch gejazzt (Muss ja vorzeigbar sein, wenn mal Gäste kommen), aber vor der Haustür ist man ein Dreckschwein. Da werden Computerbildschirme stumpf aus dem Fenster geworfen und halbexplodiert auf dem Gehweg liegen gelassen, da werden Flaschen auf Spielplätzen zerdeppert und – und damit kommen wir zurück zu Rudis Worten über Stoffwechselendprodukte – da wird der geliebte Fellvierbeiner nur kurz vor die Haustür getrieben, um sein Geschäft zu verrichten. Tür auf, Hund raus, Scheiße auf den Bürgersteig, Hund rein, Tür zu. »Überall liegt Scheiße, man muss eigentlich schweben. Jeder hat 'nen Hund, aber keinen zum Reden«, hihopte Peter Fox in einem Lied über seine Heimat Berlin und er hat verdammt Recht. Auf meinem Fußweg zur Tram, der vielleicht siebenhundert Meter beträgt, zählte ich gestern Morgen stolze 24 verschiedene Hundehaufen in allen nur erdenklichen Aggregatzuständen: Frisch dampfend, gekringelt, auf drei Meter verteilt, zertreten, unter einem Blatt, auf einer Zeitung, verschmiert, an Autoreifen, in einem ausgehöhlten Computerbildschirm (!), matschig, steif, hochkant, flachgedrückt, befußabdruckt, flüssig, rund, eckig, oval und, und, und. Der Umstand, dass Berlin in den letzten Tagen durch Tauwetter von den Schneemassen befreit wurde, ergänzt dieses Schlachtfeld der Hundekacke, um eine weitere, alles übertreffende Spielart des Poos: Mousig, aufgequollene, braungrüne Überbleibsel Kot des Jahrgangs 2010, im Eis konserviert über den Jahreswechsel, 2011 in all seiner abstoßenden Widerlichkeit ans Tageslicht gespült. Diese Form des Scheiße ist der Adolf Hitler unter den Kotrückständen: verhasst, abstoßend, Würgereflex auslösend, niederträchtig. Doch man kann dem Hund keinen Vorwurf machen für die Erleichterung auf Beton und Pflastersteinen, denn wie so oft im Leben, ist der wahre Widerling der Mensch, der dahinter steht.
Es gibt Städte in denen (und auch Hundehalter unter denen) sich herumgesprochen hat, dass man den Auswurf seines Haustieres auch fachgerecht entsorgen kann. Das ist zwar einem Moment lang unangenehm, aber gehört nunmal dazu, wenn man sich einen Hund als Haustier halten möchte. In Berlin scheint diese Message nicht angekommen zu sein. Oder, was wahrscheinlicher ist, sie wird ignoriert, weil draußen alles scheißegal ist. Das ist schade, traurig und bedenklich zugleich, denn wenn es so weiter geht, versinkt diese Stadt bald in Scheiße. Ein erster Hinweis darauf ereignete sich heute morgen auf dem Weg zum Brötchen holen. Vor mir ging ein junger Mann (Typ: Atze) mit seinem Vierbeiner. Der Hund setzte zum Schiss an, Atze laberte in sein Telefon, da passierte es: In einem unbedarften Moment trat Atze in einen schmierigen Resthaufen eines anderen Hundes, während gleichzeitig sein Hund seine braune Duftmarke setzte, grummelt Atze die Wort: »Scheiße!« Ich dachte nur: Selten so viel Scheiße auf einem Haufen gesehen. Ironie des Schicksals oder: Manchmal trifft es die richtigen.

Doch auch im übertragenen Sinne machen Rudis Worte Sinn: 2010 war für mich ein extremes Jahr. Mein erstes Jahr als kleines Rädchen im Maschinenraum der Arbeitswelt. Ein WM-Jahr dazu, was in der Branche, in der ich derzeit lerne gleichbedeutend mit 7-Tage-Wochen und 14-Stunden-Tage ist. Ich habe sehr viel gearbeitet, zu viel möchte man sagen und mich im Privaten nicht unbedingt geschont. Mein Körper hat sich das alles in Ruhe angesehen, um dann in dem Moment, in dem er um Weihnachten zur Ruhe kommen sollte, eiskalt zurückzuschlagen. Es hat mich dahingerafft! Ausgerechnet die schönste, ruhigsten, bedächtigsten Tage des Jahres habe ich liegend, ja dahinsiechend, verbracht, um mich dann irgendwann im Krankenhaus wieder zu finden. Das macht nachdenklich, ob die Ausrichtung des Lebens richtig gewichtet ist und führt zu einem klaren Ergebnis: Nein! Deswegen geht es nun daran, neue Wege zu finden. Schwierig genug, denn ich merke nach wie vor, dass mein Körper ein klares Warnsignal ausgesendet hat. Ich fühle mich noch immer schlapp, anfällig und irgendwie ängstlich vor den Dingen die draußen auf mich warten: Feuchtigkeit, Kälte, Wind, hustende und schniefende Menschen in zu engen Bahnen – Feinde für ein angeknackstes Immunsystem.

Der Plan ist klar: 2011 soll ein gesundes Jahr werden. Oder anders gesagt: Die Scheiße soll weg bleiben, wenn der Schnee zu schmilzen anfängt.